Für den Zofinger Politikwissenschaftler Urs Vögeli sieht Demokratie und Menschenrechte viel eher in einem Verhältnis der gegenseitigen Optimierung. Für ihn stehen die Menschenrechte nicht über der Demokratie und die Demokratie steht nicht über den Freiheitsrechten. In seinen sogenannten Open debate zeigt er verschiedene Perspektiven und Zugänge zu einem Thema auf und lässt dabei viel Raum für interessante Zwischentöne.
Sie haben das Forum Demokratie und Menschenrechte aufgebaut. Was ist Ihre Motivation, sich so zu engagieren?
Urs Vögeli: Mich haben die grossen Themen wie Demokratie, Menschenrechte und Freiheitsrechte schon immer sehr interessiert. Ich schreibe inzwischen meine Doktorarbeit an der Universität Zürich dazu. Das hat mich zusätzlich motiviert ein Forum auf die Beine zu stellen, mit welchem wir uns fundiert und mit der interessierten Bevölkerung mit solchen Themen auseinandersetzen können. Es wird in der Schweiz viel zu wenig darüber debattiert. Es dürfen nicht nur Wissenschaftler darüber sprechen. Es geht uns alle etwas an.
Die Schweiz ist doch aber das Land der direkten Demokratie. Nirgends wird so viel über Demokratie gesprochen wie hier. Was sagen Sie dazu?
Natürlich haben wir Dank der direkten Demokratie ein lebendiges und vitales demokratisches System mit vielen Debatten über unterschiedlichste Sachthemen. Nichtsdestotrotz halten sich viele Mythen, so etwa das Demokratie nur Mehrheitsherrschaft bedeutet oder eben Menschenrechte sakrosankt sind. Ich plädiere für ein gemeinsames und komplexes Verständnis von Demokratie und Menschenrechten.
Wie meinen Sie das?
Schauen Sie unsere direkte Demokratie an. Die besteht nicht nur aus Initiativen, Wahlen und Volksabstimmungen. Für das Verständnis unserer direkten Demokratie müssen wir auch den Zusammenhang mit unseren dezentralen Strukturen anschauen, oder etwa unsere Anhörungskultur oder das Milizprinzip. Die Zivilgesellschaft kann sich über viele Wege aktiv in die Politik einbringen. So wird unsere Demokratie viel mehr als Mehrheitsherrschaft. Es ist eigentlich eine ganz ausgeklügelte Machtverteilung auf ganz vielen Ebenen auf ganz viele Schultern. Unsere Demokratie ist gegen Herrschaft per se gerichtet. Sie ist ein Versuch der Verwirklichung von politischer und individueller Freiheit.
Und was hat das mit den Menschenrechten zu tun?
Wenn ich Demokratie so verstehe, dann gibt es auch eine grosse Gemeinsamkeit mit den Menschenrechten. Sie sind in erster Linie auch gegen staatliche Herrschaft gerichtet, gegen Dominanz und Willkür. Ich verstehe sie als Freiheitsinstrument. Das gibt dann aber auch ein differenziertes Bild der Menschenrechte. Das heisst, dass nicht einfach jedes politische Anliegen und jede Ungerechtigkeit zu einer Menschenrechtsfrage gemacht werden kann. Ansonsten gibt es eine Inflation, die das Konzept abwertet, anstatt es kostbar zu halten. Nicht umsonst warnen inzwischen viele Professoren von einer Politisierung oder sogar Ideologisierung der Menschenrechte. Meine Lösung ist die, dass wir Demokratie und Menschenrechte viel eher in einem Verhältnis der gegenseitigen Optimierung ansehen müssen. Sie bedingen sich gegenseitig. Das hört sich abstrakt an, hat aber sehr praktische Konsequenzen. Die Menschenrechte stehen nicht über der Demokratie und die Demokratie steht nicht über den Freiheitsrechten.
Jetzt organisieren Sie aber Podien und veröffentlichen vor allem Beiträge zum EU-Rahmenabkommen. Was hat das mit Demokratie und Menschenrechten zu tun?
Das Rahmenabkommen gibt die Möglichkeit, wieder öffentlichkeitswirksam über unsere Demokratie und Freiheitsrechte zu debattieren. Ein Gutachten von Rechtsprofessor Andreas Glaser hat gezeigt, dass das Rahmenabkommen unsere direkte Demokratie, die politischen Rechte, unsere Gewaltenteilung und unseren Föderalismus negativ tangiert. Somit war dann für uns klar, dass wir uns hier einbringen wollen. Wir müssen ohne Scheuklappen über die Auswirkungen des Abkommens sachlich diskutieren. Das ist unsere Vision. Uns geht es auch darum, dass wir diese komplexe juristische Materie runterbrechen und debattieren, was heisst das für jedes Individuum in der Schweiz.
Beim Rahmenabkommen geht es aber gemäss den Befürwortern vor allem um Wirtschaftspolitik. Sie sehen das offenbar anders.
Die Grundidee des Abkommens ist die institutionelle Einbindung der Schweiz in die EU-Strukturen. Die EU wollte von Anfang an die Rechtsübernahme automatisieren, administrative und gerichtliche Kontrollen einführen und die Streitschlichtung klären. Das läuft auf eine politische Integration hinaus und hat vorerst gar nichts mit Wirtschaft zu tun. Das Rechtsgut- achten von Professor Glaser kommt zum Schluss, dass das Rahmenabkommen eigentlich ein Beitritt zu einer supranationalen Organisation bedeutet. Es ist ein Quasi-Beitritt zur EU. Das entspricht der Kernidee des Abkommens. Darüber müssen wir reden.
Sie organisieren mit dem Forum moderne Events, die nicht sehr klassisch sind. Was ist hier die Idee dahinter?
Wir wollen neue Formen der Debatten ausprobieren und sind damit bisher sehr erfolgreich. Einerseits wollen wir keine klassischen Pro-Contra-Podien durchführen, sondern viel eher verschiedene Perspektiven und Zugänge, sowie interessante Zwischentöne zu Wort kommen lassen. Das ist in einer polarisierten Welt nicht immer einfach. Andererseits wollen wir auch immer aktiv das Publikum in die Diskussion einbinden. Hierfür wenden wir interaktive Moderationsmethoden an, so dass auch innerhalb des Publikums und mit dem Panel eine lebhafte Debatte entsteht. Das ist ein gewisser Kulturwandel.
Letzten Herbst haben Sie auch mit allen Jungparteien ein solches Event durchgeführt. Wie waren da die Erfahrungen?
Inhaltlich war spannend zu sehen, dass mit wenigen Ausnahmen von links bis rechts ein grosses Unbehagen vorherrscht und viele offene Fragen zum Rahmenabkommen im Raum stehen. Die Jungen hatten eine erstaunlich kritische Haltung, welcher wir natürlich auf den Zahn gefühlt haben. Das Interesse an einer offenen Debatte war gross und entsprechend lebhaft wurde diskutiert. Wir sind der Meinung, dass es viel mehr solche Orte braucht, wo wir offen und ehrlich miteinander reden und austauschen können über die Parteigrenzen hinweg, wo nicht immer das Ja oder Nein im Zentrum stehen muss, sondern das gegenseitige und vertiefte Verständnis. Das wird sehr geschätzt.
Und doch hat Ihr Forum auch eine eigene Position zu gewissen Fragen. Wie gehen Sie damit um?
Unser Forum hat eine parteiunabhängige Trägerschaft. Nichtsdestotrotz haben wir zu den Fragen die wir behandeln eine Position. Deshalb setzen wir auch bei den Podien auf möglichst neutrale Moderatoren und mit dem partizipativen Ansatz steht ja dann das Publikum mit seinen Anliegen und Fragen im Zentrum, nicht wir.
Und wie steht das Forum zum Rahmenabkommen?
Wir sind kritisch bis ablehnend eingestellt, weil unsere Analysen ergeben haben, dass aus demokratiepolitischer und freiheitsrechtlicher Sicht das Abkommen zu grossen Einbussen führen würde. Nicht nur die direkte Demokratie und unsere dezentralen Strukturen würden strapaziert, sondern auch die Parlamente und das Bundesgericht sind in Mitleidenschaft gezogen. Unser ausdifferenziertes und erfolgreiches Gesamtsystem würde sich grundlegend verändern. Es würde sich vom bewährten Bottom-up-Ansatz hin zu einem Top-down-Ansatz wandeln, was aus unserer Sicht ein Verlust wäre. Die vorher erwähnten politischen Stärken der Schweiz wie dezentrale Strukturen, Milizsystem und die Anhörungskultur würden zunehmend ausgehöhlt.
Redaktion
Zur Person
Urs Vögeli studierte Politikwissenschaft und Geografie an der Universität Zürich. Er arbeitet an seiner Doktorarbeit zum Thema Demokratie und Menschenrechte. Seit vier Jahren leitet er ein Politikberatungsbüro in Bern und führt diverse Think Tanks, unter anderem das Forum Demokratie und Menschenrechte. Er ist mit seiner Familie in Zofingen zu Hause.